Betrachten Sie Berlins Gegenwart durch seine Vergangenheit | Migration

1994 setzt sich Werner Egiomue, ein alter Mann mit graumeliertem Haar, in Berlin vor eine Kamera und erzählt die außergewöhnliche Geschichte seiner afrodeutschen Familie. Dem Journalisten, der ihn interviewte, erzählte er, wie sein Großvater M’bonga Egiomue 1896 aus der damaligen deutschen Kolonie Kamerun nach Berlin emigrierte und zwar zunächst Kolonialsubjekt des Deutschen Reiches, aber nach dem Ersten Weltkrieg staatenlos wurde. Er sprach von M’bongas vielen Ehen, seinen Kindern und seiner Arbeit in der deutschen Filmindustrie. Er erzählte weiter, wie er selbst Nazi-Deutschland als Schwarzer überlebte und sich nach der Teilung Berlins mit seiner Familie ein Leben aufbaute.

Ich erfuhr von der bemerkenswerten Geschichte der Familie Egiomue und vielen anderen, als ich die Ausstellung Trotz Allem: Migration in die Kolonialmetropole Berlin im beliebten Bezirk Kreuzberg der deutschen Hauptstadt sah.

Die Ausstellung zeichnet das Leben vieler afrikanischer, arabischer und asiatischer Kolonialsubjekte nach, die im 19. Jahrhundert nach Berlin emigrierten, sowie ihrer Nachkommen. Es beleuchtet das Versprechen und die Gefahren, ein außereuropäischer Migrant im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu sein, von der Unbequemlichkeit, an Minnesängershows teilnehmen zu müssen, bis hin zur Hoffnung, eine Familie und ein Unternehmen zu gründen.

Die Ausstellung thematisiert das Leben außereuropäischer Migranten, die unter besonderen Umständen nach Deutschland kamen und ganz unterschiedlichen Herausforderungen gegenüberstanden.

Es gibt viele Geschichten von Migranten aus afrikanisch-deutschen Kolonien wie M’bonga, die in sogenannten „Menschenzoos“ vorgeführt und zur Unterhaltung der deutschen Öffentlichkeit zu erniedrigenden Routinen gezwungen wurden. Dazu kommen die Geschichten chinesischer Gelehrter wie Xue Shen, die nach Berlin kamen, um „orientalische Sprachen“ zu lehren. Es gibt sogar die Geschichte von Mahmoud Osman, einem tunesischen Soldaten der französischen Armee, der während des Ersten Weltkriegs überlief und sich den deutschen Streitkräften anschloss und sich schließlich dauerhaft in Deutschland niederließ.

Auf den ersten Blick scheint die Ausstellung historisch zu sein. Aber die tiefere Auseinandersetzung mit dem, was sie zu bieten hat, macht deutlich, dass sie tatsächlich eine wesentliche Ergänzung zum laufenden Gespräch über Migration und insbesondere außereuropäische Migration in Deutschland ist.

Erstens, obwohl die in der Ausstellung dargestellten Migrationserfahrungen in vielerlei Hinsicht einzigartig für ihre Zeit sind, ist es schwer, bemerkenswerte Parallelen zwischen ihnen und den Migrationserfahrungen von Nichteuropäern im modernen Deutschland zu erkennen.

Die Ausstellung zeigt, dass die Migranten des 19. Jahrhunderts nach Deutschland, ob sie gezwungen waren, ihr Herkunftsland zu verlassen oder aus welchen Gründen auch immer dazu auserwählt wurden, alle Träume und Wünsche hatten, die denen der modernen Migranten sehr ähnlich waren: eine Ausbildung zu erhalten, zu finden eine passende Wohnung und Arbeit, jemanden zu finden, den man lieben kann und mit dem man eine Familie gründen kann… kurz gesagt, sicher, glücklich und akzeptiert zu sein.

Obwohl Daten über diese Migranten rar sind, deuten die in der Ausstellung präsentierten Beweise darauf hin, dass sie auf ähnliche Hindernisse wie die heutigen außereuropäischen Migranten stießen, als sie versuchten, ihr Leben im Berlin des 19. Jahrhunderts aufzubauen. Rassismus, sowohl offener als auch verdeckter, war vielleicht die größte Herausforderung, die sie zurückhielt. Formal gebildete Migranten aus afrikanischen Kolonien beispielsweise konnten aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Migrationshintergrunds nur Jobs mit niedrigerem Status wie Türsteher, Fahrer oder Entertainer erhalten.

Selbst wenn wir diese Parallelen ignorieren, trägt Trotz Allem zu Deutschlands andauerndem Gespräch über Migration bei, indem es einfach zeigt, dass außereuropäische Migranten nicht nur in diesem Land präsent sind, sondern seit über einem Jahrhundert ein fester Bestandteil seines Gefüges sind.

Tatsächlich sieht man neben den Zeugnissen von Afrodeutschen wie Egiomue Fotografien und andere Dokumente, die die unbeschreibliche Tatsache bezeugen, dass Schwarze in Deutschland lange vor unserer Gegenwart in ihrer ganzen Komplexität gelebt und geatmet haben.

Und diese Migranten existierten nicht nur als Einzelpersonen, sie schufen auch eine Gemeinschaft in ihrer neuen Heimat, inspiriert von den panafrikanistischen Kämpfen, die sich materialisieren sollten.

Mehrere von ihnen schlossen sich beispielsweise 1918 zum Afrikanischen Hilfsverein zusammen, dem ersten gesamtdeutschen Verein zur Vertretung schwarzer Interessen in Deutschland. Politisch vielfältig in ihrem Ansatz – mit Sozialisten in ihrer Gruppe – waren sie an mehreren Fronten vereint, um rassistischen Übergriffen entgegenzutreten und afrikanischen Migranten zu helfen, die in Deutschland leben. Diese gemeinschaftsbildenden Bemühungen waren auch nicht nur organisatorisch. Die kamerunische Diaspora zum Beispiel hat veröffentlicht Elolombe ya Kamerunein zweisprachiges Magazin in Duala und Deutsch, das über die politischen Aktivitäten der in Deutschland lebenden Afrikaner berichtet.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die Geschichten von Migranten viel weiter zurückreichen, als man sich das in Deutschland oft vorstellt, denn hierzulande wird derzeit darauf gedrängt, dass die Kinder oder Enkel von Migranten als Deutsche akzeptiert werden – wenn sie es jemals sein sollen in das nationale Selbst aufgenommen werden – ohne unangemessene Anerkennung oder Untersuchung ihres familiären Hintergrunds.

Aber die Kenntnis dieser Geschichte ist notwendig – nicht nur für die Nachkommen von Migranten, sondern für alle Deutschen – um Deutschlands anhaltende Beziehung zu den dort lebenden Nichteuropäern zu verstehen und in vielerlei Hinsicht dazu beizutragen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, Deutscher zu sein.

Wir haben diese Geschichten erhalten, weil die Berlin Postcolonial Association und eine Reihe anderer betroffener Organisationen, darunter die Black Initiative in Deutschland und Each One Teach One, die Berliner Stadtregierung und die Bundesregierung gebeten haben, Maßnahmen zu ergreifen, um diese Geschichte aufzudecken. Und afrikanisch-deutsche Wissenschaftlerinnen wie Katharina Oguntoye und Natasha A. Kelly haben sich Gedanken darüber gemacht, was es heißt, sowohl schwarz als auch deutsch zu sein. Was Trotz Allem und die jahrzehntelange Recherche und der Aktivismus, auf denen er aufgebaut hat, sind nicht nur Relikte der Vergangenheit, sondern ein Mittel, sich durch die Geschichte zu schleppen und zu erkennen, wie Deutschland in der Gegenwart mit Migration umgeht.

Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs in Syrien, erlebte die außereuropäische Migration nach Deutschland mit mehr als einer Million Menschen aus dem Nahen Osten und anderen Ländern, die in Deutschland Asyl suchten, einen neuen Höhepunkt. Während viele diese Migranten mit offenen Armen begrüßten und die deutsche Regierung eine viel gastfreundlichere Haltung einnahm als ihre europäischen Kollegen, gab es auch eine nativistische Gegenreaktion und viele aufgeworfene Fragen darüber, ob diese Migranten wirklich in die deutsche Gesellschaft „integriert“ werden könnten. In diesem Jahr erlebte Deutschland aufgrund des Krieges in der Ukraine eine weitere massive Migrationswelle. Und wieder einmal ist Migration ein großes Diskussionsthema in der deutschen Öffentlichkeit.

All das macht eine Ausstellung wie Trotz Allem noch zeitgemäßer und aussagekräftiger.

Als ein Netzwerk von Organisationen und Forschern Fragmente vergangener Migrationsgeschichte durchwühlte, stießen sie nicht nur auf die persönlichen Geschichten dieser Männer, Frauen und Kinder, sondern auch auf die historische Behandlung von Afrikanern und anderen Nichteuropäern durch Deutschland. Darüber hinaus zeigten sie, wie Migranten es schafften, alle Hindernisse zu umgehen und Deutschland zu ihrer Heimat zu machen, selbst wenn der Staat ihnen das Asyl verweigerte und die Gesellschaft ihnen die Aufnahme verweigerte.

Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Position von Al Jazeera wider.

Emilie Kunze

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