Deutsches Pilotprojekt zielt darauf ab, in Armut lebende Kinder zu erziehen | Deutschland | Ausführliche News und Berichterstattung aus Berlin und darüber hinaus | DW

Sechs Kinder toben in der Turnhalle der Kindertagesstätte Gelsenkirchen herum. Hermine und Thalia erklimmen eine Rampe zur Gitterwand, lassen sich schnell wieder hinunterfallen und stürmen in die nächste Runde.

Andere Kinder krabbeln und schaukeln abwechselnd unter und über gespannten Seilen, üben das Springen, das Werfen von Bällen oder schlagen sich mit dem Skateboard durch einen Parcours aus roten Stangen. Hochkonzentriert üben sie, bis sie die Herausforderung meistern.

„Hey Schatz, könnt ihr euch bitte versammeln?“ fragt Farzana Mecklenbrauck, Sozialpädagogin und Bildungsleiterin, „Wie hat es Ihnen gefallen?“ “ Gut ! Gut ! Gut ! sagen die Kinder.

Das Gymnasium ist nur eines von vielen Angeboten für Fünfjährige, die im nächsten Jahr eingeschult werden.

Die Grundschule Gelsenkirchen liegt in einem der ärmsten Viertel der Stadt

Ein vielschichtiges Problem

Mecklenburg fördert Kinder intensiv im Rahmen des Pilotprojekts „Zukunft früh sichern“ (ZUSi), an dem sieben Kitas im Landkreis Ückendorf beteiligt sind.

Gebremst werden die Kinder hier nicht nur durch Geldmangel, sondern auch durch kulturelle Barrieren wie schlechte Deutschkenntnisse, soziale oder gesundheitliche Probleme und Bildungsarmut.

Gelsenkirchen hat wie andere Städte im Ruhrgebiet seit Jahren mit besonders hoher Kinderarmut zu kämpfen. Ende 2021 lebten 40 % der Kinder unter 15 Jahren in Familien mit Sozialhilfebezug. Die Region erlebte eine wirtschaftliche Umstrukturierung, als Deutschland sich von der Kohlekraft abwandte und viele Menschen in dieser Region im Bergbau arbeiteten. Hier sind inzwischen besonders viele Familien von Armut betroffen.

Etwa sieben von zehn Kindern (bis neun Jahre) leben in Familien mit Migrationshintergrund. Sie sind besonders armutsgefährdet, ebenso wie Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern.

Kinder aus den ärmsten Familien hatten zu Beginn des Projekts ZUSi erst 50 % der ihrer Altersgruppe angemessenen Fähigkeiten entwickelt.

Talente kultivieren

Kinder aus allen Familien, ob arm oder nicht, profitieren von der angebotenen Bildungsförderung. Sie können einen Bauernhof besuchen, mit dem Förster im Wald spazieren gehen, mit einem Künstler malen lernen, in der Musikschule der Kita Instrumente ausprobieren oder mit Strom und Magnetismus experimentieren, Vulkane entdecken. Auch Theatertage und ein Fahrradprojekt sind geplant.

Kinder im Vorschulalter können auch die nahe gelegene Grundschule besuchen, um ihre Ängste abzubauen und Barrieren abzubauen. Resilienzkurse werden regelmäßig organisiert, um sie zu ermutigen, sich ihrer Gefühle bewusst zu werden und darüber zu sprechen.

„Ich merke, wenn ich am ganzen Körper wütend bin, von oben bis unten“, sagte ein Junge. Kinder lernen, Konflikte zu lösen und auf ihren Erfolgen aufzubauen. Wer sich nicht erst an die Kletterwand traut, kann jede Woche trainieren.

Im Kindergarten entwickelte Hermine ihr künstlerisches Talent; sein Gemälde hängt jetzt in einer kleinen Ausstellung. Younes hat eine Handtrommel gebaut und liebt es zu tanzen. Wenn er davon erzählt, macht er auf der Stelle ein paar Schritte. Thalia sagt, dass sie gerne klettert und malt.

 Drei Kinder in Gelsenkirchen-Ückendorf

Das Projekt bietet eine Vielzahl von Aktivitäten für arme Kinder an

Unterstützung beim Übergang in die Grundschule

Farzana Mecklenbrauck hilft, die Kinder an Vereine mit angepassten Programmen zu vermitteln und Anbieter in die Kita zu bringen. Sie sagt, dass das ZUSi-Programm von den Eltern sehr gut angenommen wurde.

Die Mütter weinten vor Rührung angesichts der neuen Möglichkeiten für ihre Kinder. „So etwas Positives habe ich schon lange nicht mehr gehört“, bestätigt Jessica Stettinus vom Schulsozialdienst Gelsenkirchen.

Zahia Bourezg stammt aus Algerien und ihr Mann kam vor vielen Jahren aus dem Irak nach Deutschland.

Auch seine älteste Tochter Lina nimmt am ZUSi-Projekt teil. Sie begann im Alter von vier Jahren in der Kita und ist jetzt in der zweiten Klasse. Die Unterstützung half Lina beim Übergang von der Kita in die Grundschule.

Bourezgs jüngste Tochter Lara nimmt an ZUSi-Aktivitäten in der Kindertagesstätte teil: „Sie kommt immer sehr glücklich nach Hause.

Die ganze Familie leiht sich mehrsprachige Bücher aus („Wir lernen zusammen!“) und Spiele können im Multimediaraum der Kita ausprobiert werden.

Janet Janssen freut sich, dass ihre Tochter Hermine dabei unterstützt wird, ihre künstlerischen Talente zu entdecken. Sie wolle ihn auch in die Stadtbibliothek mitnehmen, „aber bei meiner Arbeit war das nicht einfach“. Die ZUSi-Kinder gingen zusammen dorthin.

Berichte darüber können Eltern auch in der neuen ZUSi-App lesen und selbst neue Kontakte knüpfen. Die App ist in 40 Sprachen verfügbar, erklärt Sebastian Gerlach, Koordinator des Projekts „Frühzeitig Zukunft sichern“ in Gelsenkirchen. Die Anwendung sollte auf Kindergärten in der ganzen Stadt ausgeweitet werden.

Zwei Frauen in Gelsenkirchen-Ückendorf

Einheimische Eltern sagen, das Projekt sei lebenswichtig

Wachsendes Bewusstein

Wenn im reichen Industriedeutschland 10 Kinder auf einem Spielplatz spielen, sind laut Statistik zwei von ihnen von Armut betroffen oder armutsgefährdet. Das ist bundesweit jedes fünfte Kind, in Kreisen wie Ückendorf sind es sogar mehr als das Doppelte.

Das bedeutet nicht, dass diese Kinder auf der Straße leben oder arbeiten müssen, um zu überleben, wie es in sehr armen Ländern der Fall ist, erklärt Armutsexpertin Irina Volf vom Institut für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik (ISS) aus Frankfurt, das versorgt wissenschaftliche Unterstützung des Projekts ZUSi.

Diese Kinder entwickeln jedoch weniger wahrscheinlich die Fähigkeiten, die ihrer Altersgruppe entsprechen.

Einige große Familien mit niedrigem Einkommen haben Schwierigkeiten, die Brotdosen ihrer Kinder täglich zu füllen. Deshalb bietet die Kita allen Kindern jeden Morgen ein gesundes Frühstück für nur 50 Cent an. Teil des ZUSi-Projekts ist es, alle pädagogischen Fachkräfte in Kindergärten und Schulen in Armutssensibilität zu schulen, damit jeder für die Probleme der ärmsten Familien sensibilisiert wird.

Dies hat zu Veränderungen im Kindergartenalltag geführt.

Wenn zum Beispiel ein Kind Geburtstag hat, bringen die Eltern keine aufwendigen Kuchen mit. Stattdessen kochen Kindergärtnerinnen mit den Kindern.

Jedes Kind feiert seinen Geburtstag auf die gleiche Weise und es erleichtert allen Eltern das Leben.

Auch Kinder wachsen schnell, aber nicht alle Eltern können es sich leisten, ständig Schuhe oder Kleidung auszutauschen. Ein wetterfester Schrank wurde angeschafft und außerhalb der Kita an einem privaten Ort aufgestellt. Jetzt können Eltern Kleidung abgeben, die ihrem Kind nicht mehr passt, und andere können abholen, was sie für ihre Kinder brauchen.

Dringender Bedarf an Fachkräften

Kinder aus armen Familien haben weniger Bildungschancen als Kinder aus wohlhabenden Familien. Viel einfacher fällt es ihnen, Klavier- oder Ballettunterricht zu nehmen, Sportvereine und Kunstschulen zu besuchen oder Ausflüge und Ferien zu machen.

Der Mangel an Chancen für die ärmsten Kinder ist nicht nur ungerecht, sondern auch kurzsichtig.

Die RAG-Stiftung fördert seit 2019 zahlreiche Projekte im ehemaligen Ruhrgebiet, darunter das Modellvorhaben „Frühzeitig Zukunft sichern“.

Mit zwei Folgeprojekten seien bisher rund 4,5 Millionen Euro zugesagt worden, teilte die Stiftung der DW mit.

„Durch die Förderung von chancenbenachteiligten Kindern und Jugendlichen übernehmen wir gesellschaftliche Verantwortung. Dennoch geht es am Ende immer darum, kein Talent ungenutzt zu lassen“, erklärt Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Vorstandsmitglied der RAG Stiftung.

„Je früher wir damit beginnen, Kinder und Jugendliche zu einer erfolgreichen Schullaufbahn zu führen, desto besser“, fügte sie hinzu. „So sichern wir heute Bildungsgerechtigkeit und die Fachkräfte, die die Wirtschaft morgen dringend braucht.“

Das Projekt soll auf Kindergärten in drei Nachbarstädten ausgeweitet werden.

Was kommt nach dem Pilotprojekt?

Das Gelsenkirchener Projekt „Frühzeitige Zukunftssicherung“ endet im Mai, allerdings werden Zweitklässler von drei Grundschulen bis zum Ende der vierten Klasse gefördert.

Und doch habe sich das Projekt bereits bewährt, sagt Irina Volf. Je früher Kinder in die Kita kommen und je mehr Stunden sie betreut werden, desto mehr Fähigkeiten können sie entwickeln.

Die Ergebnisse sollen dauerhaft in die Kitas in Gelsenkirchen eingebracht werden, erklärt Koordinator Sebastian Gerlach. Allerdings werden Schulassistenzstellen nicht mehr gefördert, da bereits eine hohe Arbeitsbelastung und ein Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen besteht.

Die ZUSi-Kinder Hermine, Thalia und Younes können es kaum erwarten, in die Schule zu gehen.

Gerade in einem Stadtteil wie Gelsenkirchen-Ückendorf sei Chancengleichheit wichtig, sagt Thalias Mutter Sarah Chaiyo: „Das Projekt muss unbedingt weitergeführt werden.

Sie sagt, ihre Familie sei nicht von Armut betroffen, aber sie wisse, wie schwer es für andere sei. Alles wird immer teurer: „Da dreht sich mir der Magen um“, fügt sie hinzu.

Volf hingegen sieht die Regierung in der Pflicht, gegen Kinderarmut und ihre Folgen vorzugehen: „Schade, dass Deutschland so viele Talente vernachlässigt.

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Rüdiger Ebner

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