Ein Urteil über Deutschlands Russlandpolitik ist längst überfällig

Der Autor leitet das Zentrum für die Vereinigten Staaten und Europa an der Brookings Institution

Seit Wladimir Putin im Februar letzten Jahres in die Ukraine einmarschiert ist, sind deutsche Politiker auf beiden Seiten des Ganges aneinandergeraten, um die Fehler der Berliner Russlandpolitik öffentlich zu leugnen – in zerknirschten Reden, Parteien umgeschrieben Unterlagen und Zugfahrten (viele Zugfahrten) nach Kiew. Anfang März flog der sozialdemokratische Co-Vorsitzende Lars Klingbeil sogar den Fraktionsvorsitzenden seiner Partei und obersten Verfechter der Kreml-Diplomatie, Rolf Mützenich, in die ukrainische Hauptstadt und setzte damit „ein unglaublich wichtiges Signal“, so Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko. .

Doch Deutschlands Russlandpolitik sieht unangenehm aus wie ein Zombie: Sie kämpft sich weiter aus dem Grab heraus. Ein sehr umfangreiches neues Buch der Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner beschreibt die Netzwerke zwischen SPD, Energiewirtschaft und Russland. Die große Spinne mittendrin: Gerhard Schröder, Altkanzler, russischer Lobbyist und persönlicher Freund Putins.

Nach Putins rechtswidriger Annexion der Krim im Jahr 2014 orchestrierte die schockierte damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel EU-weite Sanktionen. Aber Bingener und Wehner beschreiben, wie die SPD-Größen von Altkanzler Helmut Schmidt gegen sie hetzten – allen voran Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel. In einer bissigen Anekdote soll Gabriel Putin unterwürfig dafür gedankt haben, dass er ihn 2015 in seiner Privatresidenz beherbergt habe, „weil Sie heutzutage so beschäftigt sind, besonders mit dem Konflikt in Syrien“.

Ein weiteres kürzlich erschienenes Buch des Journalisten und Russlandwissenschaftlers Michael Thumann (vollständige Offenlegung: Wir sind Freunde und ehemalige Kollegen) schlägt einen langen Bogen vom Rapallo-Vertrag von 1922 zwischen der Weimarer Republik und der Sowjetunion bis heute. Er schlussfolgert vernichtend: „Der Vertrag von Rapallo und die Nord-Stream-Projekte waren durch eine gemeinsame falsche Annahme verbunden: dass Russland und Deutschland durch höhere Interessen verbunden sind, die wichtiger sind als gute Beziehungen zu den Staaten Europas, Mittel-, Ost- und Westeuropa.

Die Gaspipeline Nord Stream 2 wurde im Frühjahr 2014, nur wenige Wochen nach der Eroberung der Krim, auf einer Feier zum 70. Geburtstag von Schröder in Sankt Petersburg konzipiert; Putin war Ehrengast. „Es war Putins Plan, die Ukraine zu schwächen. . . und Deutschland mitschuldig zu machen“, schreibt Thumann. Das Wirtschaftsministerium habe 2016 aufgehört, Daten über Gasimporte zu veröffentlichen; auf Nachfrage wurde ihm mitgeteilt, dass es sich um „Geschäftsgeheimnisse“ handele. Im Jahr 2022, dem Jahr, in dem Russland in die Ukraine einmarschierte, wurde bekannt, dass Russlands Anteil an den deutschen Gasimporten 55 % betrug. Die Falle hatte sich geschlossen.

Es scheint, dass die Sozialdemokraten noch viel zu verantworten haben. Aber was ist mit den Christdemokraten und Merkel, die Schröder als Kanzler nachfolgte und Deutschland 16 Jahre lang regierte, davon 12 in einer großen Koalition mit der SPD?

Nach dem Einmarsch in die Ukraine hat CDU-Chef Friedrich Merz Sprich darüber die „ernsten Mängel“ seiner Partei; Seitdem hat er keine weiteren Details angegeben. Merkel selbst hatte sich gegenüber Putin klar gezeigt, aber auch die Nord-Stream-Pipelines bis zum Ende ihrer Amtszeit als „ausschließlich privates Unternehmen“ verteidigt. Bei einem inzwischen berüchtigten Auftritt an einem Berliner Theater nach ihrer Pensionierung hat sie bestritten zu akzeptieren, dass sie ihre eigenen Fehler gemacht hatte.

Dieses schallende Schweigen macht die anderen Konservativen sichtlich wütend. In einer vernichtenden aktuellen Zeitung AufsatzHans-Joachim Falenski, ehemaliger außenpolitischer Berater der CDU, berichtet von den wiederholt vereitelten Versuchen der Fraktion, dem Verhältnis Berlins zum Kreml Biss zu geben – und macht Merkel dafür verantwortlich.

Und es gibt noch mehr: den Skandal eines Russen Mol in der Abteilung Cybersicherheit des deutschen Auslandsnachrichtendienstes; die florierenden Betrugs- und Aufsichtsfehler, die im Finanzdienstleistungsfall Wirecard aufgedeckt wurden (der flüchtige Chief Operating Officer des Unternehmens, Jan Marsalek, wird verdächtigt, ein russischer Spion gewesen zu sein); Aktuelle Klimaenthüllungen Stiftung die als Kanal für Gazprom-Gelder diente, um den Bau von Nord Stream 2 (inzwischen ausgesetzt) ​​vor der russischen Invasion abzuschließen.

All dies deutet auf zwei Dinge hin. Deutschlands Anfälligkeit für Wirtschaftskorruption ist systembedingt. Und das ist ein Sicherheitsrisiko – nicht nur für Europa, sondern für das westliche Bündnis. Deutschland braucht eine parlamentarische Untersuchungskommission. Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen.

Willi Langer

„Neigt zu Apathieanfällen. Bierevangelist. Unheilbarer Kaffeesüchtiger. Internetexperte.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert