Deutschland bemüht sich, eine neue Außenpolitik zu gestalten

Der Autor ist Kolumnist für Le Monde und Mitglied der Robert Bosch Academy in Berlin.

Deutschland erlebt seinen Moment der Perestroika, und wie die Russen unter Michail Gorbatschow vor fast vier Jahrzehnten wissen die Deutschen nicht, wohin sie das führen wird.

„Perestroika“ bedeutete wörtlich Wiederaufbau, war aber ein Codewort für radikalen Wandel. Im Fall von Deutschland heute lautet hier das Codewort Zeitenwendeoder „Wendepunkt“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar, drei Tage nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, in einer Rede vor dem Bundestag verkündete.

Der Wendepunkt dieser Rede war die Schaffung eines Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro zur Ausrüstung der deutschen Streitkräfte sowie die Zusage, das NATO-Verteidigungsausgabenziel von 2% des Produkts Rohmaterial zu erreichen. Dieser Krieg hat Europa erschüttert, aber für Deutschland und seine Außenpolitik ist der Schock noch tiefer. Es hat die entscheidende Beziehung des Landes zu Russland auf den Kopf gestellt, es zwingt es zu einer Überarbeitung seiner Energiepolitik und führt vor allem zu einer vollständigen Neukalibrierung seiner Sicherheitsstrategie und seiner Rolle in der Welt.

Deutschlands europäische Partner beobachten die Entwicklungen mit großer Neugier, wobei jede Aufregung in Berlin eher mit Vorsicht begegnet wird. Wie Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt am vergangenen Sonntag auf einer Konferenz des European Council on Foreign Relations warnte: „[The] Zeitenwende ist keine statische Sache, es ist eine dynamische Situation. Wir versuchen immer noch herauszufinden, was das wirklich bedeutet. Kritiker im In- und Ausland finden den Prozess zwangsläufig quälend langsam und beklagen die Unfähigkeit der Kanzlerin, dem Begriff konkretere Inhalte zu geben.

Dennoch ist der Richtungswechsel verblüffend. Blick auf die Trümmer seiner sozialdemokratischen Partei OstpolitikScholz musste diese Woche eingestehen, dass eine Partnerschaft mit „Putins aggressivem und imperialistischem Russland auf absehbare Zeit undenkbar“ sei, nachdem sein diplomatischer Berater Jens Plötner dafür kritisiert worden war, öffentlich über das künftige Verhältnis des Landes zu Moskau nachzudenken. Die lang erwartete Reise der Bundeskanzlerin nach Kiew in Begleitung von Präsident Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis und ihre Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine lösten endlich eine peinliche Unklarheit.

Das Scheitern des alten deutschen Mantras „Wandel durch Handel“ ist in Berlin inzwischen so weit akzeptiert, dass Angela Merkels Sturheit, ihr Erbe zu schützen, seltsam aus der Stimmung heraus scheint. Kaum hatte die Altkanzlerin ihr den Rücken gekehrt, musste ihr Nachfolger Nord Stream 2 töten, die von ihr unterstützte Gaspipeline mit Russland. Da Putin jetzt die Wasserhähne abdreht, bemüht sich Deutschland, die schwerwiegende Energieknappheit zu bewältigen, da es seine Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen beendet. Wirtschaftsminister Robert Habeck warnte die deutschen Verbraucher in der vergangenen Woche vor harten Zeiten und schickte ihnen eine deutliche Botschaft: Das ist der Preis der Freiheit.

Auch der große Aufwand für den Wiederaufbau der Bundeswehr und ein Umdenken der Bundesbürger müssen teuer bezahlt werden. Dies ist ein Land, das im vergangenen Jahrhundert andere angegriffen hat oder sich bei seiner Verteidigung auf seine Verbündeten verlassen hat. Jetzt muss er eingreifen, um ein anderes Land, die Ukraine, zu verteidigen. Und er stellt fest, dass seine Regale leer sind – so zumindest die offizielle Erklärung für die dramatische Langsamkeit der Waffenlieferungen in die Ukraine.

Deutschland verlässt seine Komfortzone in einer nicht länger vom Handel getriebenen Außenpolitik und sieht sich auch mit Erwartungen seiner Partner für seine Führungsrolle konfrontiert – für die die Deutschen bezeichnenderweise lieber das englische Wort verwenden. Dies ist eine alte Frage, aber sie ist jetzt dringend.

Gespräche mit Politikern, die sich auf Zehenspitzen um die Bedeutung deutscher Führung bewegen, beinhalten typischerweise eine Reihe von Überlegungen zu Verantwortung, Ehrgeiz, Kultur oder Zusammenarbeit. Aber sie müssen die neue Rolle, die SPD-Vizevorsitzender Lars Klingbeil „nach 80 Jahren Zurückhaltung“ für Deutschland auf der Weltbühne vorsieht, genauer definieren. Abhilfe könnte eine Initiative der grünen Außenministerin Annalena Baerbock schaffen: Sie wird in Kürze eine öffentliche Debatte starten, um die deutschen Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der ersten „Nationalen Sicherheitsstrategie“ des Landes einzubeziehen.

Doch viele Fragen bleiben unbeantwortet. Wird es auch eine geben Zeitenwende Wie sieht es mit der deutschen China-Politik aus? Wie wird sich die durch den Krieg in der Ukraine verursachte Haltungsänderung auf die neue Dynamik innerhalb der EU auswirken? Wird der 100-Milliarden-Euro-Fonds dazu beitragen, eine neue europäische Verteidigungsindustrie zu formen?

Warte, sagen deutsche Beamte, die Zeitenwende ist noch ein „Lernprozess“. Aber das heutige Europa hat nicht den Luxus, Zeit zu haben.

Ebert Maier

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