Die Flüchtlingskrise steht zur Hauptsendezeit in Deutschland im Rampenlicht

Die folgenschwere Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, vor fünf Jahren eine beispiellose Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Nordafrika in Deutschland willkommen zu heißen, löste in weiten Teilen der Welt politische Auswirkungen aus. Nur in Deutschland löste dies auch eine popkulturelle Gärung aus. Ein Bestseller über Merkels Entscheidung inspirierte einen äußerst beliebten Fernsehfilm. Jeder Versuch, das Erbe des Sommers 2015 zu verstehen, muss beide Werke berücksichtigen – und ihre entscheidenden Unterschiede. Die Verzerrungen des einen werden durch die Kunstfertigkeit des anderen korrigiert und sie zeigen den gleichen Lernprozess, der auf die breite deutsche Öffentlichkeit wartet, die darum kämpft, das Erbe der betreffenden Ereignisse zu definieren.

Das Buch wurde 2017 von Robin Alexander, politischer Redakteur der konservativen Tageszeitung, veröffentlicht Die Weltunter dem Titel Die Getriebenen: Merkel und Flüchtlingspolitik: Bericht in Innern der Macht (Die Motivierten: Merkel und die Flüchtlingspolitik: Bericht aus den Korridoren der Macht). Darin wird Merkel als eine naive und unentschlossene Führungspersönlichkeit dargestellt, die aus Angst, dass die Welt dem deutschen Volk die Schuld für die Schließung der Grenzen angesichts dunkelhäutiger Frauen und Kinder geben würde, sich dafür entschied, Flüchtlingen aus Ungarn und Österreich, die auf dem Weg nach Deutschland waren, die Einreise zu erlauben das Land, in dem sie politisches Asyl beantragen könnten. Alexander deutet an, dass sie als selbstbewusste deutsche Anführerin nicht den Mut hatte, das Richtige zu tun: die Grenze zu Österreich schließen, die Konsequenzen seien egal. Dies ist die Rede, die bei vielen Deutschen, insbesondere innerhalb seiner eigenen Partei, der Christlich-Demokratischen Union, Konsens gefunden hat.



Die Getriebenen: Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, Robin Al-exander, Siedler Verlag, 288 Seiten, 19,99 €, März 2017 (auf Deutsch)

Die Getriebenen: Merkel und Flüchtlingspolitik: Bericht an Innern der MachtRobin Al-exander, Siedler Verlag, 288 Seiten, 19,99 €, März 2017 (auf Deutsch)

Der überaus beliebte deutsche Film unter der Regie des Filmemachers Stephan Wagner, der Anfang des Jahres in der ARD ausgestrahlt wurde, orientiert sich hinsichtlich seiner Handlung (und seines Titels) an Alexanders Buch, legt jedoch einen völlig neuen Schwerpunkt auf das Material. Der Film zeichnet die Krise von Juli bis November 2015 auf, erzählt anhand der rasanten politischen Aktivitäten hinter den Kulissen von Merkel, ihrem Kabinett, deutschen Behörden wie den Chefs der Bundespolizei und der Grenzpolizei sowie beteiligten ausländischen Führungspersönlichkeiten. wie etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban.

Der Film erhielt positive Kritiken, aber die Schauspielerin Imogen Kogge, die Merkel spielt, verdient besonderes Lob dafür, dass sie über das Ausgangsmaterial hinausgeht. Während Alexanders Buch die Kanzlerin als schwach und unentschlossen darstellt, ist Kogges Merkel prinzipientreu und introspektiv. Sie ist gezwungen, sich mit einem EU-Flüchtlingsregime auseinanderzusetzen, das offensichtlich irreparabel gebrochen ist: Menschen, die in der EU politisches Asyl erlangen wollen – ein Recht, das nicht nur im EU-Recht, sondern auch in der Genfer Konvention verankert ist – sind verpflichtet, in dem Land zu bleiben, in dem sie leben Sie reichen zunächst ihren Antrag ein, bis über ihren Fall entschieden wird. Doch mit steigender Zahl der Ankömmlinge nimmt ihr Interesse an einem Aufenthalt in Griechenland und Italien ab, und die Behörden dieser Länder werden sie nicht an der Ausreise hindern. Schnell wird klar, dass auch andere Nachbarländer auf dem sogenannten Balkanpfad sie nicht willkommen heißen wollen, was die Frage aufwirft, was Deutschland tun wird. Plötzlich wurde Merkel von allen Seiten in Deutschland angegriffen, auch von Hardlinern in ihrer eigenen Regierung, insbesondere von Horst Seehofer, dem damaligen bayerischen Ministerpräsidenten, der darauf bestand, den Flüchtlingszustrom zu stoppen.

Kogge spielt Merkel als eine Person, die vor Ort ist und die Ereignisse aufmerksam verfolgt, aber auch seit Beginn der Krise in Konflikt gerät. Das ist nicht einfach eine moralisch lobenswertere Darstellung als die von Alexander, sondern vor allem eine zutreffendere Darstellung, wie jeder weiß, der Merkels schicksalhafte Pressekonferenz am 31. August 2015 gesehen hat. Wie der Film schildert, waren es Zehntausende Flüchtlinge überquerte in diesem Monat die ungarische Grenze, bevor Orban den Stacheldrahtzaun errichten konnte, der Ungarn von Serbien abschneiden sollte. Es waren die Schauplätze der Gräueltaten – Flüchtlinge, die unter schrecklichen Bedingungen am Budapester Keleti-Bahnhof campierten, im Mittelmeer ertrunkene Familien und ein an einer österreichischen Autobahn gefundener Lastwagen mit 71 erstickten Flüchtlingen an Bord –, die Merkel letztendlich bewegten, und nicht nur die Berechnung des Reputationsschadens, der dadurch entstehen würde resultieren aus einer unnachgiebigen Reaktion, die Alexander betont. Deutsche Konservative, darunter auch Vertreter seiner Regierung, forderten lautstark die Abriegelung der deutschen Grenze, auch wenn dies Stacheldraht, Tränengas und die Zurückdrängung mittelloser Familien durch deutsche Polizeieinheiten bedeutete. Nahe der Grenze waren Einheiten der Bundespolizei stationiert, die bereit waren, dies zu versuchen. Doch Merkel gab auf: Es sei nicht möglich gewesen, eine Mauer wie Ungarn zu bauen, was etwa vier Monate gedauert habe.

Im Film war ihr Ehemann die Stimme des Gewissens. Joachim Sauer, dessen abendliche aufmunternde Ansprache die Entschlossenheit der Kanzlerin bestärkte. Das heißt aber nicht, dass die Entscheidung rein emotional war; Merkel verstand, dass es bei den Ereignissen um die moralische Bedeutung des europäischen Rechts ging. Der am häufigsten zitierte Satz aus der Pressekonferenz, auf der Merkel die Öffnung der deutschen Grenzen ankündigte, lautete: „Wir schaffen das„-„Wir können es schaffen.“ Doch ihre Analyse ging über diesen Satz hinaus. Wie sie betonte, sei politisches Asyl ein in der deutschen Verfassung verankertes Grundrecht, ebenso wie die Achtung der Menschenwürde, unabhängig von der Nationalität.

Es gab auch einen eher rein demokratischen Grund, den Alexander in seinem Buch nie anerkannte: Die Aufnahme von Flüchtlingen war zunächst bei Deutschen beliebt, insbesondere in protestantischen und katholischen Kirchen. „Unsere Freiheit, unser Rechtsstaat, unsere Wirtschaftskraft, die Ordnung unseres Zusammenlebens – davon träumen Menschen, die in ihrem Leben Verfolgung, Krieg und Willkür erlebt haben“, sagte Merkel. „Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nicht immer so.“ Im September 2015 ergaben Meinungsumfragen, dass zwei Drittel der Deutschen seine Flüchtlingspolitik unterstützten. In Gemeinden im ganzen Land errichteten Freiwillige Unterkünfte, spendeten Lebensmittel und Decken und hießen Familien in ihren Häusern willkommen.

Merkels mutige Haltung sollte nicht von Dauer sein. Ungarn, dann Kroatien, dann Österreich schlossen ihre Grenzen. Im südlichen Mittelmeer haben EU-Patrouillen damit begonnen, Boote mit Migranten abzufangen und an Land zurückzubringen. Selbst Länder wie Schweden und Finnland, die viele Flüchtlinge aufgenommen haben, haben ihre Grenzen signalisiert. Obwohl Merkel die volle Macht Deutschlands einsetzte, gelang es der EU nicht, die Zustimmung für eine proportionale Verteilung der Flüchtlinge im gesamten Block zu gewinnen. In Deutschland griffen Konservative Merkel heftig an und änderten den Tenor der Rede. In der letzten Szene von Die Motivierten Im Film erhält Merkel die schlechte Nachricht: Flüchtlinge haben eine der Hallen des Münchner Messegeländes gestürmt, wo die Menschenmenge für Spannungen gesorgt hatte. Leise murmelt sie: „Scheiße.“

Tatsächlich kippte die Stimmung Ende 2015. Merkel hatte weder die Unterstützung ihrer eigenen Partei noch die nötige Kraft, an ihren Überzeugungen festzuhalten. Seehofers öffentliche Schikanen hielten jahrelang an und befeuerten den Erfolg der jungen Partei Alternative für Deutschland, die in den Umfragen von nur 4 Prozent Anfang 2015 auf über 12 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 schoss. Eine Option, die Merkel nicht wahrhaben will Film im Jahr 2015, den sie 2016 ausnutzt: Sie setzt sich mit dem türkischen Führer Recep Tayyip Erdogan (den sie als autoritären Despoten bezeichnet hat) zusammen, um eine Einigung zu erzielen, bei der die EU für türkische Flüchtlingslager bezahlt und Türken visumfreies Reisen anbietet Reisen nach Europa im Austausch für eine strenge Überwachung der Westgrenze der Türkei. Die EU ersetzte auch maritime Einsätze zur Rettung von Flüchtlingen, die das Mittelmeer überquerten, durch Kriegsschiffe und Hubschrauber durch Befehle, sie an der Überfahrt zu hindern. Die Balkanländer sowie Marokko, Algerien und Tunesien gelten als „sichere“ Staaten und sind daher keine Orte mehr, an denen ihre Bürger politisches Asyl beantragen können.

Im Jahr 2017 verlangsamte sich der Flüchtlingszustrom nach Europa und Deutschland, doch die aus der Krise hervorgegangenen Geschichten halten bis heute an. Merkel wird vorgeworfen, „die Grenzen zu öffnen“ und Migranten nach Deutschland einzuladen, obwohl diese schon lange unterwegs waren und eine seit Jahrzehnten offene österreichisch-deutsche Grenze überquerten. Darüber hinaus werden in einem über konservative Kreise hinausgehenden Diskurs die Flüchtlinge der Jahre 2015–2016 (und tatsächlich die meisten Flüchtlinge) als „Wirtschaftsmigranten“ betrachtet, also als Menschen, die in reicheren Ländern nach besseren Jobs suchen. Tatsächlich kamen im Jahr 2015 85 % der 1,3 Millionen Menschen, die in Europa politisches Asyl suchten, aus Syrien, Afghanistan, Irak und Eritrea – allesamt Kriegsländer. Rund die Hälfte der Asylbewerber, denen in Deutschland entweder politisches Asyl oder eine eher vorübergehende Aufenthaltsform gewährt wurde, nahm offene Stellen und Ausbildungsplätze an und leistete damit seit 2016 einen Beitrag zur deutschen Wirtschaft.

Fünf Jahre nach der Migrationskrise sind weder Deutschland noch die EU der Formulierung einer neuen gemeinsamen Flüchtlingspolitik einen Schritt näher gekommen. Die EU-Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der Türkei wird durch Erdogans Kontrolle über die weitläufigen Flüchtlingslager der Türkei eingedämmt. Wenn die EU-Mittel versiegen, wie es Anfang des Jahres der Fall war, hat der türkische Präsident gezeigt, dass er bereit ist, Flüchtlingswellen in Richtung der Ägäisküste freizulassen, um eine Antwort zu erhalten. Das Recht auf politisches Asyl ist in Europa nun de facto eingeschränkt – ein unvermeidliches Übel, um die extreme Rechte am Gedeihen zu hindern, heißt es. Wie viele Menschen, die im vom Krieg zerrissenen Libyen verfolgt werden, können nicht an die EU-Grenzen reisen, um Asyl zu beantragen? Niemand weiß. Aber sie sterben im Mittelmeer bei dem Versuch, es zu tun.

Was wir auch nie erfahren werden, ist, wie die Deutschen reagiert hätten, wenn Merkel im August 2015 weiterhin ihre ursprünglichen Gründe für die Aufnahme von Flüchtlingen verteidigt hätte. Wenn Merkel diese differenzierte und ethische Erklärung nicht mehr selbst anbietet, haben die Deutschen jetzt zumindest die Chance dazu eine vernünftige Lösung finden. Genug Faksimiles im nationalen Fernsehen.

Emilie Kunze

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