Führende Gewerkschaften und Berufsverbände kamen am Montag im Bundeskanzleramt zusammen, um eine sogenannte „konzertierte Aktion“ einzuleiten, um die Krise der Lebenshaltungskosten des Landes unter Kontrolle zu bringen.
Verschärft durch Russlands strategische Drosselung der Gaslieferungen nach Europa stieg die Inflation in Deutschland im Juni auf 7,6 %, wobei Politiker und hochrangige Beamte bereits warnen, dass vor der kalten Jahreszeit in diesem Herbst Energie gespart werden muss.
„Bürger müssen im Alltag für sich selbst sorgen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen Sender. ARD am Sonntag. „Und wenn die Heizkosten plötzlich um ein paar Hundert Euro steigen, ist das vielleicht ein Betrag, den sich viele Menschen gar nicht leisten können.“ Die Krise sei ein „soziales Pulverfass“.
Einmalzahlungen oder Gehaltserhöhungen?
Der Kanzler dementierte eine Geschichte, die am Wochenende durch die deutschen Medien gegangen war: Er wolle das Problem mit steuerfreien Einmalzahlungen lösen.
Solche einmaligen staatlichen Zahlungen, insbesondere für Heizkosten, hatten Mitglieder seiner Sozialdemokratischen Partei (SPD) letzte Woche auf den Weg gebracht, aber die Regierung betonte, dass dies nur eine von vielen erwogenen Maßnahmen sei.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sagte neben mehreren Ökonomen, dass jede Lösung langfristig sein müsse und keine einmalige Kaution für die Mitarbeiter. „Nur höhere Löhne und Sozialleistungen werden den Schaden für Menschen mit mittleren oder niedrigen Einkommen kompensieren“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.
Die großen Gewerkschaften haben ihrerseits bereits harte Verhandlungen versprochen. Die Vorsitzenden der beiden größten deutschen Gewerkschaften, der IG Metall, die 2,26 Millionen Industriearbeiter vertritt, und ver.di, der Dienstleistungsgewerkschaft, betonten beide, dass die Löhne mit der Inflation Schritt halten müssen, um die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen.
Die NGO Tafel, die kostenlose Lebensmittel verteilt, verzeichnet einen dramatischen Anstieg der Nachfrage
Holger Bonin, Forschungsdirektor am Institut für Arbeitsökonomie (IZA) in Bonn, wies jedoch darauf hin, dass die in den letzten Jahren stark gewachsenen einkommensschwachen Sektoren in Deutschland gar nicht mehr gewerkschaftlich vertreten seien. „Es ist wirklich eine sehr lückenhafte Maßnahme, weil viele Menschen fehlen, die sie brauchen könnten“, sagte er der DW.
Die Gespräche über die „konzertierte Aktion“ sollen bis zum Herbst andauern, und nur wenige erwarten schnelle Durchbrüche. Ein Regierungssprecher versuchte am Montag, die Erwartungen zu bewältigen, dass es darum gehe, sich auf einen Prozess zu einigen, anstatt sofortige Lösungen anzubieten, betonte er, und das Ziel sei es, den Schlag auf die Einkommen der Menschen abzumildern und gleichzeitig einen sogenannten „Lohnpreis“ zu vermeiden. . Spiral.“
Der Mythos der Lohn-Preis-Spirale
Fratzscher nannte das Konzept einen „falschen Mythos“ und warnte davor, es in konzertierten Aktionen einzusetzen, um zu versuchen, die Arbeiter davon abzuhalten, höhere Löhne zu fordern. Der Umsatztrend sei im Allgemeinen eher zu niedrig als zu hoch gewesen, sagte er. „Je geringer die Kaufkraft, desto größer der Schaden für die Wirtschaft“, sagte Fratzscher.
Oppositionspolitiker kritisierten derweil bereits das Vorgehen der Kanzlerin. In der Tat ist „konzertierte Aktion“ ein Verfahren, das bei älteren Deutschen, insbesondere bei SPD-Wählern, eine gewisse Resonanz findet: Es wurde erstmals 1967 von SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller geprägt, als das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg ins Stocken geriet . .
Schiller führte eine informelle Reihe regelmäßiger Gespräche zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Regierung ein, um zu versuchen, die steigende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die Gespräche erwiesen sich als schwierig, dauerten aber über ein Jahrzehnt, bevor sie 1978 endgültig scheiterten.
1967 nahm SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller (2l) informelle Gespräche zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung auf
„Konzertierte Aktion ist natürlich ein viel geliebter historischer Begriff, der sich gut anhört“, sagt Bonin, ein Arbeitsrechtsforscher. „Es tut ihnen sicherlich gut, sich zu unterhalten, Informationen auszutauschen und Vertrauen in das gemeinsame Ziel aufzubauen.“ Er wies aber auch darauf hin, dass Deutschland immer eine gewisse Stabilität und Kompromissbereitschaft zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften genossen habe, auch ohne dass die Regierung die Gespräche moderiere.
„Das ist nur ein Etikett für einen Dialogprozess“, fügte er hinzu. „Die Konzertierte Aktion der 1960er-Jahre hatte einen ganz anderen Ausgangspunkt: Sie wurde geboren, als eine lange Zeit nahezu Vollbeschäftigung endete und die erste große Arbeitslosigkeit begann.“
Auch die Opposition äußerte sich skeptisch gegenüber dem Format. „Angesichts der Eröffnungsposition sind wir gespannt, was bei einer zweistündigen Sitzung herauskommen wird“, sagte Jens Spahn, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU. RND Nachrichtennetzwerk mit einem Hauch von Sarkasmus. „Was wir jetzt brauchen, sind dauerhafte, gezielte Einkommensteuerentlastungen, damit mehr für niedrige und mittlere Einkommen übrig bleibt.“ Spahn sagte auch, die Stromsteuer solle gesenkt werden.
Auch hier dürften die Steuererleichterungen laut Bonin eher denjenigen mit höheren Einkommen zugute kommen. „Es gibt Arbeitnehmer, die so geringe Einkommen haben, dass sie keine Einkommenssteuer zahlen“, sagte er. „Und das sind ziemlich viele Leute in Deutschland.“
Die Regierungsparteien selbst haben unterschiedliche Vorstellungen, was in der Lebenshaltungskrise zu tun ist. Die Grünen haben bereits behauptet, dass ihre jüngste Idee – ein 9-Euro-Ticket für eine monatliche Fahrt im Regional- und Stadtverkehr quer durch das Land – erfolgreich war, und viele fordern bereits eine Verlängerung des Programms über den Sommer hinaus. obwohl Bundeskanzler Scholz diese Möglichkeit inzwischen ausgeschlossen hat.
Stärkster Koalitionspartner ist aber wohl die FDP, deren Vorsitzender Christian Lindner auch Bundesfinanzminister ist. Vor dem Treffen am Montag warnte Lindner vor weiteren Staatsausgaben.
„Was wir brauchen, sind gezielte Hilfen, um den Kaufkraftverlust zu verringern“, sagte er der ARD. „Und dann Anreize, ohne staatliche Gelder mehr zu produzieren, um die Produktivität zu steigern.“ Stattdessen forderte er mehr Freihandelsabkommen oder eine qualifiziertere Einwanderung.
Bearbeitet von: Rina Goldenberg
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