Wie sich die britische Intelligenz in Deutschland verliebte

Ein wirtschaftlicher Abschwung, ein Aufstieg der extremen Rechten, sogar apokalyptische Hagelstürme – was zum Teufel ist in Deutschland los? Entrinnt die europäische Industriemacht? Nun, ja und nein. Deutschland befindet sich in einer Rezession und die deutsche Anti-Einwanderungspartei Alternative für Deutschland (AfD) gewinnt an Stärke, aber schlechte Nachrichten aus Deutschland deuten auf eine nachhaltigere Wende hin: Das liberale Großbritannien hat sich endlich von der Bundesrepublik getrennt.

Der Aufstieg der AfD bereitet nicht nur britischen Germanenfreunden Sorgen. Diese Woche warnte der Chef der deutschen Nationalspionage, Thomas Haldenwang, vor dem Aufstieg des Rechtsextremismus innerhalb der Partei, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wiederholte diese Bedenken. Verbannt die Verfassungsfeinde! erklärt Der Spiegel, das berühmte deutsche Nachrichtenmagazin. Zum ersten Mal in seinem Leben scheint Deutschlands hart erkämpfter Ruf für politische Mäßigung und wirtschaftliches Gespür ins Wanken zu geraten.

Ohne ihren Ruf als Allwissende sieht Merkels Amtszeit nun ganz anders aus

Seit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und der Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland haben fortschrittliche Briten eine unwahrscheinliche Zuneigung zu Europas mächtigstem und bevölkerungsreichstem Land entwickelt. Berlin wurde zur Hauptstadt der Coolness und die britischen Zentristen sahen in Deutschland ein Musterbeispiel für einen wohlwollenden Kapitalismus.

Dieser Hype erreichte 2016 seinen Höhepunkt, als Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten wurde und das Vereinigte Königreich die Europäische Union verließ. Im Vergleich zu Trumps wilden Äußerungen und dem parlamentarischen Chaos beim Brexit in Großbritannien wirkte die Regierung von Angela Merkel wie ein Musterbeispiel an gesundem Menschenverstand. Man konnte die Attraktion sehen. Während Trump sich auf Twitter austobte und Großbritannien von der Blockade gegen Theresa May zur Achterbahnfahrt gegen Boris Johnson überging, gab es Zeiten, in denen „Mutti“ Merkel wie die einzige Erwachsene im Raum aussah.

Merkels reumütige Fans erkennen mit Verspätung, dass der Schein trügt. Als Wladimir Putin in die Ukraine einmarschierte, stellte sich heraus, dass sich Trumps vorzeitige Klagen über die Abhängigkeit Deutschlands von russischen fossilen Brennstoffen tatsächlich ausgezahlt hatten. Deutschland hat sich bemerkenswert schnell von russischem Öl und Gas abgewendet, doch Merkels Bilanz wurde beschädigt. Im Gegensatz zu Trump oder Johnson war seine heitere Aura der Klugheit schon immer sein größter Trumpf. Ohne den Ruf der Allwissenheit sieht seine Amtszeit nun ganz anders aus.

Der Aufstieg der AfD ist ein weiteres belastendes Erbe der Merkel-Ära. Merkels Partei, die Christlich-Demokratische Union (CDU), war schon immer eher heidnisch als Thatcher-Anhänger gewesen, aber sie war dennoch eine konservative Partei. Während ihrer 16 Jahre als Kanzlerin hat Merkel sie jedoch schrittweise von der Mitte-Rechts-Position der deutschen Politik in die Mitte gerückt und sich das natürliche Territorium der linksgerichteten sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der SPD, angeeignet.

Kurzfristig war dies sehr effektiv, da es die SPD neutralisierte und ihr keine andere Wahl ließ, als sich weiter nach links zu wenden, wo sie vom Rumpf der harten Linken in Deutschland, der Linken, überflügelt wurde. Längerfristig hinterließ Merkels Zentrismus jedoch eine Lücke auf dem rechten Flügel der deutschen Politik, die die AfD schnell füllte. Für die Progressiven Großbritanniens, die es als Bastion gegen den Rechtspopulismus betrachteten, ist es ein besonders problematisches Erbe.

Merkels Nachfolger als Kanzler, Olaf Scholz von der SPD, ist ein effizienter Fixierer hinter den Kulissen mit der enttäuschenden Miene eines langweiligen Bürokraten der Mittelschicht. Es wird in Großbritannien nie große Anklang finden. Vielleicht ist es das Beste. Ohne einen weiteren Mutti, auf den sie ihre Hoffnungen setzen können, werden die britischen Liberalen vielleicht eine realistischere Haltung gegenüber Deutschland entwickeln und erkennen, dass die Bundesrepublik nie ihr versprochenes Land war.

Jeder, der schon einmal dort war, wird bestätigen, dass Deutschland ein erfrischend altmodisches und sozial konservatives Land ist, vor allem in seinen ausgedehnten ländlichen Gebieten mit verschlafenen Dörfern und malerischen Marktstädten. Britische Reisende, die es typischerweise nach Berlin oder Großstädten wie Hamburg und Köln zieht, haben ein verzerrtes Bild von der deutschen Einstellung, ebenso wie ausländischen Besuchern in London ein falscher Eindruck von Großbritannien vermittelt wird.

Anders als London übt die deutsche Hauptstadt nur eine vage Anziehungskraft auf ganz Deutschland aus. Die Bundesrepublik ist eine Föderation von 16 Staaten und wie in den Vereinigten Staaten ist die staatliche Identität ebenso wichtig wie die nationale Identität. Für die Deutschen wiegen Regionalwahlen genauso viel wie Bundestagswahlen. Ihre Landeshauptstadt ist genauso wichtig wie ihre Landeshauptstadt (die Bayern werden nicht müde zu erzählen, dass München näher an Mailand liegt als an Berlin). Trotz der verlockenden Anziehungskraft der Großstädte sind viele Deutsche hartnäckig provinziell, in ihrer Heimat verwurzelt und beziehen ihre Nachrichten stets aus lokalen Zeitungen und dem Regionalfernsehen.

Während linke britische Experten dazu neigen, Deutschland als rechtsgerichtetes Nirvana zu betrachten, können rechte britische Kommentatoren umgekehrt nie ganz entscheiden, ob Deutschland ein sozialer und wirtschaftlicher Fall ist, der zur unausweichlichen Selbstzerstörung verurteilt ist, oder ob er allmächtig ist Supermacht, entschlossen, Europa heimlich zu dominieren.

Diese beiden widersprüchlichen Stereotypen sind weit von der Wahrheit entfernt. Als ich in den letzten 30 Jahren aus ganz Deutschland berichtete, habe ich festgestellt, dass die meisten Deutschen traditionell beruhigend sind und sich intensiv in der lokalen Politik engagieren, sich aber weniger für den Rest der Welt interessieren. Sie arbeiten gerne hart, halten den Kopf gesenkt und genießen ihren Komfort. Was die meisten Deutschen wirklich wollen, ist ein ruhiges und komfortables Leben.

Auch das alte Klischee der „rücksichtslosen Effizienz“ trifft nicht zu, wie jeder bestätigen kann, der kürzlich mit der Deutschen Bahn unterwegs war. Für britische Journalisten ist die Deutsche Bahn zum Paradebeispiel für die aktuellen Probleme Deutschlands geworden, aber eigentlich ist das nichts Neues – die Deutschen beschweren sich schon seit Jahren über deutsche Züge, und das aus gutem Grund.

Wie schlimm ist es derzeit in Deutschland? Sicher, die jüngsten Wirtschaftszahlen sind ziemlich düster (sogar Robert Habeck, der beeindruckende deutsche Vizekanzler, hat die aktuelle Situation als „alles andere als zufriedenstellend“ beschrieben), aber wenn man genauer hinschaut, wird das Bild schnell komplexer. Ja, die Inflation in Deutschland liegt über dem EU-Durchschnitt, aber sie ist niedriger als in Großbritannien. Ja, die Wirtschaft schrumpft, aber die Fabrikbestellungen sind auf dem höchsten Stand seit drei Jahren.

Auch wenn die AfD auf dem Vormarsch ist und kürzlich ihre erste Kreistagswahl gewonnen hat, ist ihr Stimmenanteil bei den letzten Bundestagswahlen um fast ein Fünftel gesunken, von 12,6 % im Jahr 2017 auf 10,3 % im Jahr 2021 die SPD), aber ihre Popularität treibt Deutschlands größte Oppositionspartei, die CDU, bereits nach rechts, und das ist sicherlich keine schlechte Sache. Wenn die CDU wieder eine echte Mitte-Rechts-Partei wird, wie viele Stimmen bekommt die AfD dann? Meiner Meinung nach nicht genug, um durchzukommen.

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Was denken die Deutschen darüber? Das ist ziemlich schwer zu sagen. Bei Hunderten von journalistischen Aufträgen seit der Wiedervereinigung schien praktisch jeder Deutsche, den ich traf, unheilbar pessimistisch hinsichtlich seiner Zukunftsaussichten, unabhängig von der aktuellen Situation. Untergangsstimmung und Düsternis sind ihre Standardeinstellung. Sie fürchten immer das Schlimmste. Zwangsläufig haben sie sogar einen zusammengesetzten Namen dafür: Weltschmerz (wörtlich „Schmerz der Welt“).

Als anglo-deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Großbritannien, der häufig Deutschland besucht, ohne die Last, dort zu leben, kann ich nicht sagen, dass ich die Negativität meiner deutschen Freunde und Verwandten teile. Im Gegensatz zu ihnen, mein Bierkrug ist halb voll statt halb leer. Die elefantenstarke deutsche Wirtschaft wird wie immer von Krise zu Krise schleppen, und die CDU wird sich nach rechts neigen und bei den nächsten Wahlen wieder in die Regierung eintreten. Sogar diese lästigen Hagelstürme werden sich auflösen.

Unterdessen waren hier in Großbritannien diese jüngsten schlechten Nachrichten aus der Bundesrepublik ein notwendiges Korrektiv – eine Erinnerung daran, dass Deutschland nur eine weitere moderne Industrienation ist, ähnlich wie das Vereinigte Königreich, mit ähnlichen Kopfschmerzen und Bestrebungen (einschließlich des Wunsches, die Einwanderung zu kontrollieren). Deutschland ist Gott sei Dank immer noch dasselbe. Es ist unsere Vision, die sich verändert hat.

Ebert Maier

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