Dahlem ist ein grüner und verschlafener Stadtteil im Südosten Berlins. Doch bei genauerem Hinsehen passieren dort viele interessante Dinge – Nazi-Erben, die ihre Beute schützen, russische Oligarchen, die Geld waschen –, aber alles gut versteckt hinter Eisentüren und hohen Hecken.
Stellen Sie sich den Schock des Morgens des 27. Mai 1968 vor: Auf dem Dach eines imposanten vierstöckigen Forschungsinstituts flatterte eine rote Fahne im Wind. Waren die Sowjets in der Nacht eingetroffen? Kaum. Langhaarige Studenten hatten das Deutsche Literaturseminar übernommen. Aus den in den Fenstern angebrachten Lautsprechern dröhnte Rockmusik. Die Türen waren verbarrikadiert. Die Bibliothek wurde enteignet. Auf einem handgeschriebenen Schild wurde erklärt, dass „Bücher kollektives Eigentum sind“ und dass „der Diebstahl von Büchern konterrevolutionär ist“. Die Studenten hatten ihre Abteilung umbenannt: In Dahlem befand sich nun das Rosa-Luxemburg-Institut, wo einst das Germanische Seminar stand.
Ohne die Proteste von vor 20 Jahren müssten Berliner Studierende Tausende Euro pro Semester zahlen.
Studenten protestierten gegen die Notstandsgesetze, die der Bundestag verabschieden wollte, doch bei der Revolte, die sich unter der Westberliner Jugend ausbreitete, ging es um viel mehr: Der Vietnamkrieg, das Patriarchat, der Kapitalismus und die Kontinuität mit dem Nazi-Regime wurden plötzlich in Frage gestellt. Dahlem war ein Zentrum der Radikalisierung.
Eine amerikanische Universität
Im Jahr 1968 war die Freie Universität Berlin erst 20 Jahre alt. Nach dem Krieg eröffnete West-Berlin am 4. Dezember 1948 eine eigene Universität, da die Friedrich-Wilhelm-Universität im Osten der Stadt verblieb und bald zu Ehren der Humboldt-Brüder umbenannt wurde.
Warum in Dahlem? Die neue Universität wurde auf der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften errichtet. Unter dem Kaiser und dann unter dem Nationalsozialismus waren auf den Feldern von Dahlem die besten Forschungseinrichtungen entstanden. Diese Institute erlebten wissenschaftliche Triumphe, wie die erste Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1938, aber auch unvorstellbare Barbarei. In einem Gebäude in der Ihnestraße sezierten Eugeniker Leichenteile von in Auschwitz ermordeten Juden, die ihr Kollege Josef Mengele geschickt hatte.
Obwohl die Freie Universität viele der gleichen Gebäude bewohnte, sollte sie einen klaren Bruch mit dieser autoritären und elitären Vergangenheit darstellen, in der in schwarze Gewänder gehüllte Professoren, bekannt als Ordinarius, wie Könige und Philosophen über ihre Fakultäten herrschten. Ein neues, demokratischeres Modell wurde aus den Vereinigten Staaten importiert. Sie nannten ihre neue fortschrittliche Einrichtung Freie Universität.
In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren wurde versucht, ein „Paritätsviertel“ einzurichten, das vier Gruppen gleiche Stimmen gewähren sollte: Lehrkräfte, akademische Mitarbeiter, nichtakademische Mitarbeiter und Studenten. Dieses System wurde 1973 vom Bundesverfassungsgericht verboten, das erklärte, dass die „Freiheit von Forschung und Lehre“ gefährdet sei, wenn Professoren überstimmt würden. Seitdem verfügen die Professoren an allen Universitäten über die absolute Mehrheit der Stimmen.
Eine radikale Universität
Ende 1967 starteten Hunderte von FU-Studenten ein „Critical University“-Programm, bei dem sie selbständige Seminare organisierten. Sie waren es leid, akademische Reformen zu fordern, die eine stärkere demokratische Beteiligung der Studierenden ermöglichen würden – und wieder einmal würden sie die notwendigen Änderungen selbst vornehmen. Die intellektuelle Gärung innerhalb der FU schlug bundesweit Wellen und in Dahlem entstanden unzählige linke Bewegungen und Sekten. Wolfgang Wippermann, der 2021 verstorbene linke Berliner Historiker, scherzte über diese dialektische Geschichte: „1948 protestierten Berliner Studenten, weil sie Marx nicht zu viel lesen wollten, deshalb gründeten sie die FU.“ . Dann, im Jahr 1968, begannen sie zu protestieren, weil sie mehr Marx lesen wollten.“
Am Institut für Deutsche Literatur gründeten maoistisch geprägte Studenten eine kommunistische Gruppe namens „Rote Zelle Germanistik“ mit dem charmanten Akronym ROTZEG. Sie erklärten sich schnell zur Kommunistischen Partei Deutschlands oder KPD/AO (Kommunistische Partei Deutschland/Aufbauorganisation) – doch ihre Gegner verspotteten sie, indem sie sie KPD/FU nannten, weil jeder wusste, wo ihre rote Basis war.
Da waren die prosowjetischen Kommunisten der Aktionsgruppe der Demokraten und Sozialisten (ADS). Rechte Professoren veröffentlichten schwarze Listen mit den Namen von 1.664 „ADSen“. Es gab die situationistischen Künstler der Kommune I, die formelle Organisation missachteten und sich auf der Bühne von Studentenversammlungen nackt auszogen. Sogar die Rote Armee Fraktion, die wichtigste Terrorgruppe der frühen 1970er Jahre, hatte Wurzeln in Dahlem: Eine der Gründerinnen der RAF, Gudrun Esslin, war Studentin an der UF, während Ulrike Meinhof dort Journalismus lehrte. Die erste Aktion der RAF fand nur einen Steinwurf von der Universität entfernt statt, als die neue Gruppe bei einem Archivbesuch den Genossen Andreas Baader aus dem Gefängnis befreite.
Der bekannteste Linke der FU war Rudi Dutschke, ein Sportler aus einem ostdeutschen Dorf, der zum Studieren in den Westen kam. Es gelang ihm, die ungleiche Bewegung von 1968 zu vereinen, weil sie so widersprüchlich war. Er war sowohl Christ als auch Marxist und konnte über die Philosophie von Lukács Vorlesungen halten, aber auch einen berittenen Polizisten absteigen lassen. Am 11. April 1968 wurde Dutschke auf dem Bürgersteig von einem rechten Terroristen erschossen. Er überlebte die Schießerei und promovierte Mitte der 1970er Jahre – mit einer Plakette auf dem Kopf – an der FU.
Im Laufe der Jahre ließen sich nicht nur Studenten, sondern auch Professoren von revolutionären Ideen verführen. Der Aktivist Peter Grottian und der Marxist Elmar Altvater wurden beide zu Professoren für Politikwissenschaft ernannt. Allerdings starb diese Generation in den 2010er Jahren aus und seitdem ist kein Radikaler mehr an ihre Stelle getreten.
Eine befreite Universität
Auch als das Kontingent 1968 seinen „langen Marsch durch die Institutionen“ begann – ein von Dutschke geprägter Ausdruck – beruhigte sich Dahlem nicht. Zwei Jahrzehnte später, Ende 1988, verbarrikadierten Studenten als Reaktion auf die Überfüllung alle Gebäude mit Stühlen und Tischen, als die UF mit 60.000 Studenten aus allen Nähten platzte. Der UniMut-Streik dauerte das gesamte Wintersemester und nach seinem Start wollten die Besatzer auch die kritische Bildung nach demokratischen Grundsätzen organisieren.
1948 protestierten Berliner Studenten, weil sie nicht mehr so viel Marx lesen wollten… 1968 begannen sie zu protestieren, weil sie mehr Marx lesen wollten.
Im Jahr 2003 versuchte die Berliner Regierung, Studiengebühren einzuführen. Zunächst würden nur „Langzeitstudierende“ zur Kasse gebeten, aber viele Studiert befürchtete, dass dies ein erster Schritt in Richtung Privatisierung sei und reagierte mit einem weiteren Streik, einschließlich massiver Kundgebungen und einem Versuch, das Berliner Parlament zu belagern. Schließlich gab eine Regierungspartei, die PDS (ein Vorläufer der Linken), nach, nachdem ihr Sitz besetzt worden war, und die Studiengebühren wurden nie festgelegt.
Das Jahr 2009 markierte die letzte große Störungswelle an der Freien Universität. Der größte Hörsaal, Hörsaal 1A, war vier Monate lang besetzt, jede Nacht schliefen Studierende auf den Sitzplätzen. Es war Teil der Bild Straße („Bildungsstreik“), der in Wien begann und sich von Österreich nach Deutschland ausbreitete. Auf dem Höhepunkt waren mehr als eine Viertelmillion junge Menschen auf der Straße. Sie wollten die starren Regelungen des Bachelor-Master-Systems beenden und forderten Bildung für alle. Diese mehr als zehn Jahre alte Bewegung war Dahlems letzte.
Und danach?
Wenn Sie nicht der Typ Mensch sind, der den Unterricht grundsätzlich gerne stört, fragen Sie sich vielleicht: Wen interessiert das? Was haben 75 Jahre Proteste gebracht, außer große Lücken in den Lebensläufen einiger linker Studierender?
Die offensichtliche Antwort lautet: viel, viel Geld. Ohne die Proteste von vor 20 Jahren müssten Berliner Studierende Tausende Euro pro Semester zahlen. Der Streik von 1988, mittlerweile 35 Jahre her, führte auch zur Gründung eines Dutzends Studentencafés, die noch immer über ganz Dahlem verstreut sind. Nach der Wiedervereinigung der Stadt gab es keine Garantie dafür, dass alle Universitäten erhalten blieben. Wie der Historiker und FU-Alumnus Ralf Hoffrogge betont, haben die Proteste die FU selbst gerettet.
Während der offiziellen Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag werden wir von akademischer Exzellenz hören, aber die Menschen in Dahlem, die den größten Einfluss auf die Geschichte hatten, sind die Studentenrebellen.
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