Forscher können aus seinen Zähnen viel über einen Menschen lernen. Dies gilt sogar für Menschen, die vor 1.500 Jahren im frühmittelalterlichen Deutschland lebten.
Ein Forscherteam um Michaela Harbeck und Maren Velte von der Bayerischen Staatssammlung für Anthropologie in München konnte menschliche Zähne aus verschiedenen mittelalterlichen Friedhöfen in Bayern, dem heutigen Teil Westdeutschlands, analysieren. Sie stammen überwiegend aus der Zeit um 500 n. Chr.
Zähne werden im Kindesalter gebildet und verändern sich im Laufe des Lebens kaum oder gar nicht. Diese Entwicklungsqualität macht es zu einem „idealen Archiv der Kindheit“. So geben Strontiumisotope beispielsweise Aufschluss über die geografische Herkunft eines Menschen, während Kohlenstoff- und Stickstoffanalysen Aufschluss über seine Ernährung geben. Die serielle Isotopenanalyse zeigt die Entwicklung der Ernährung von der Geburt bis zum Alter von etwa 20 Jahren. Diese Methode zeigt den Übergangsprozess vom Stillen im Säuglingsalter zur Aufnahme fester Nahrung im Säuglingsalter.
Komplexe Migrationsprozesse
Die Ursprünge des modernen Europa gehen auf eine Zeit zurück, die als Völkerwanderungszeit bekannt ist. In dieser Zeit, die von der Spätantike bis zum Mittelalter reicht, endete das Weströmische Reich und es begannen tiefgreifende kulturelle und politische Veränderungen. Viele Städte, Dörfer und Siedlungen haben ihren Ursprung in dieser Zeit. In Südbayern entstand im 6. Jahrhundert aus der ehemaligen römischen Provinz Raetia secunda das bayerische Herzogtum.
Die Rolle der Migration in diesem Prozess bleibt sehr umstritten. Stabile Strontiumisotope aus mehr als 150 frühmittelalterlichen menschlichen Skelettresten zeigen, dass im späten 5. Jahrhundert überdurchschnittlich viele Menschen nichtbayerischer Herkunft in die südliche Region des heutigen Bayern auswanderten. An diesen Wanderungen waren sowohl Männer als auch Frauen beteiligt. „Obwohl wir die genauen Herkunftsgebiete vieler Individuen nicht angeben können, können wir zeigen, dass sie aus einer Vielzahl nicht-lokaler Regionen stammten“, sagt Harbeck, Erstautor der Studie.
Bestimmte für Bayern untypische Ernährungsweisen deuten darüber hinaus auf eine ausländische Herkunft einiger der bestatteten Personen hin. Mehrere Frauen, die für Südosteuropa typische genetische Marker aufwiesen und auch künstlich veränderte Schädel hatten, ernährten sich in ihren prägenden Jahren hauptsächlich von Hirse. In Osteuropa und sogar Asien ist der Hirseanbau weit verbreitet, in Bayern wird er derzeit jedoch nur noch selten angebaut.
„Diese Frauen sind offensichtlich in anderen Kulturen außerhalb Bayerns aufgewachsen“, sagt Harbeck. „Bei einigen Frauen konnten wir sogar den ungefähren Zeitpunkt ihrer Ernährungsumstellung und damit den Zeitpunkt ihrer Einwanderung nach Bayern eingrenzen. Viele Frauen aus Südosteuropa beispielsweise wanderten nicht – wie man es im damaligen Kontext der Heiratsmigration erwarten würde – als Teenager ein, sondern waren bereits über 20 Jahre alt, als sie in Bayern ankamen.“
Entwöhnung und Beikost
Bei einigen Personen wurde eine detaillierte Ernährungsumstellung von der Geburt bis zum Alter von etwa zehn Jahren, einschließlich der Umstellung von Muttermilch auf feste Nahrung, durchgeführt. Diese Analysen zeigen, dass Frauen in der Spätantike und im Frühmittelalter ihre Kinder deutlich länger gestillt haben als heute. Maren Velte erklärte in ihrer Doktorarbeit:
Die Entwöhnung von der Muttermilch war bei den meisten der untersuchten frühen Bayern zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr abgeschlossen. Vor allem Frauen ausländischer Herkunft werden offensichtlich länger gestillt. Solche langen Stillzeiten sind beispielsweise bei Nomadenvölkern bekannt.
Der Entwöhnungsprozess, also die schrittweise Zugabe fester Nahrung als Ersatz für die Muttermilch, birgt immer ein gewisses Risiko für die Gesundheit des Säuglings. Kinder sind plötzlich und wiederholt neuen Krankheitserregern und möglicherweise Unterernährung ausgesetzt. Sichtbare Fehlbildungen des Zahnschmelzes, die während der Zahnentwicklung auftreten und als identifizierbare Marker für physiologischen Stress gelten, können interpretiert werden, um festzustellen, in welchem Alter Kinder diesen Stressereignissen ausgesetzt waren.
Säuglinge, die nach den gesellschaftlichen Umbrüchen in Bayern aufwuchsen, erlebten offenbar einen besonders hohen „Entwöhnungsstress“: Im 7. Jahrhundert waren stressbedingte entwicklungsbedingte Veränderungen der Zahnmorphologie besonders häufig. Das Forschungsteam geht davon aus, dass grundlegende Veränderungen in der Ernährung von Kindern, insbesondere bei Beikost, dafür verantwortlich sind. Zukünftige Untersuchungen werden weitere Details offenbaren.
Der Artikel „Verfolgung früher Lebensgeschichten von der Römerzeit bis zum Mittelalter: Weaning-Praktiken und physiologischer Stress“ von Maren Velte, Andrea Czermak, Andrea Grigat, Deborah Neidich, Bernd Trautmann, Sandra Lösch, Bernd Päffgen und Michaela Harbeck erscheint in Archäologische und anthropologische Wissenschaften. Klicken Sie hier, um das zu lesen.
Bild oben: Sichtbare Fehlbildungen des Zahnschmelzes, die während der Zahnentwicklung auftreten und als erkennbare Marker für physiologischen Stress gelten. Foto von M. Harbeck, Staatssammlung für Anthropologie München (SNSB-SAM)
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